EHWS Alpin, Etappe 5: Rochers de Naye - Roche VD
Das klare Spätsommerwetter hielt an, und ich hatte wieder zwei Tage Zeit zum Wandern. Also reiste ich erneut frühmorgens an den Genfersee und fuhr mit der Zahnradbahn zum Rochers de Naye hinauf – zwei Wochen, nachdem ich dort oben meine letzte Etappe beendet hatte.
Der Hausberg von Montreux markiert einen Wendepunkt der Hauptwasserscheide: Sie ändert hier ihre Hauptrichtung von Nord-Süd nach West-Ost, wobei dies in zwei Stufen geschieht: Sobald sie die benachbarte Bergkette der Aveneyre erreicht, wechselt sie, dieser folgend, nochmals für einige Kilometer nach Nordost-Südwest, bevor sie ein zweites Mal rechtwinklig abbiegt, um sich dann in Hauptrichtung Ost fortzusetzen. Bis zu diesem zweiten Knick kann man über weite Strecken exakt auf oder sehr nahe an ihr entlang wandern. Weil sie anschliessend aber den ausserhalb der Sommerferienzeit nur an Wochenenden zugänglichen Waffenplatz Hongrin durchquert, ist man dann gezwungen, sie zu verlassen, um in einem weit nach Süden ausholenden Bogen erst Tage später zu ihr zurückzukehren.
Lange Strecke, knappe Zeit
Die heutige Etappe versprach anstrengend und vor allem sehr lang zu werden. Denn so hervorragend das Gebiet westlich des Rochers de Naye touristisch und verkehrstechnisch versorgt ist, so wenig ist dies östlich davon der Fall. Ein Hauptgrund dafür ist der Waffenplatz Hongrin, der den ganzen Taltrog südlich des gleichnamigen Stausees bis auf die umringenden Kreten hinauf beansprucht und die Gegend dadurch vom Saanetal im Norden abriegelt. Ein zweiter Grund ist die schiere Unzugänglichkeit des Geländes von Süden her: Das enge Tal der Tinière ist lediglich durch ein schmales, kurvenreiches und langes Stich-Strässchen, die Schlucht der Eau Froide überhaupt nicht erschlossen.
Rochers de Naye - Roche VD |
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Etappe | EHWS Alpin, Nr. 5 |
(Fernwanderprojekt EHWS) | |
Länge / Dauer | 21,5 km / 7h55' |
Auf- / Abwärts | 743 m / 2'324 m |
Höchster Punkt | 2'021 m (Pointe d'Aveneyre) |
Tiefster Punkt | 379 m (Roche VD) |
Fernwanderwege | --- |
Durchgeführt | Donnerstag, 8. September 2016 |
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Wer diese Gegend durchwandern und nicht biwakieren will, muss sich deshalb auf eine lange Etappe ohne Versorgungsmöglichkeit einstellen – ganz gleich, welches Ziel er anvisiert.
Dasjenige, das ich im Sinn hatte, war der Weiler Luan oberhalb des Dorfes Corbeyrier, hoch über der Rhone-Ebene. Von dort wollte ich mit dem letzten Bus des Tages oder, falls ich diesen verpassen würde – was sehr wahrscheinlich war – per Taxi nach Aigle hinunter gelangen. Für den Fall, dass ich nicht so schnell vorankommen sollte wie erhofft, sah ich als Plan B einen Talabstieg durch die Schlucht der Eau Froide nach Roche vor; viel kürzer war diese Strecke freilich auch nicht. Jedenfalls waren beide Varianten so lange, dass man sie eigentlich frühmorgens in Angriff nehmen sollte – zumal es in den Alpentälern im September schon ab acht Uhr abends ziemlich dunkel werden konnte. Aber das erste Bähnlein erreichte den Rochers de Naye erst gegen Viertel nach neun, und das Hotel und seine Jurten hatten für die vorangehende Nacht kein Bett frei. Es stand mir also nur ein relativ knappes Zeitfenster zur Verfügung.
Eine Pointe lockt
Nach einem Kaffee zog ich los: der bereits kräftig heizenden Morgensonne über der schattigen Wand der Aveneyre-Kette entgegen, die dahinter aufragenden Tour d’Aï und Tour de Mayen im Blick, die Wahrzeichen der Gegend. Mit der Aveneyre-Kette ist der Rochers de Naye über einen abwärts geneigten, hügelig-begrasten Rücken verbunden, der das Tal der Tinière vom Einzugsgebiet des Hongrin trennt. Ein schöner, aber tückischer Pfad führte mich exakt über den Grat und die Wasserscheide zum Col de Chaude hinunter, wo das vom Genfersee heraufkommende Stichsträsschen endete und zwei Autos parkiert waren. Die Hauptwasserscheide steigt von hier praktisch senkrecht die Felswand zur Pointe d’Aveneyre hinauf.
Selber gelangte ich etwa eineinhalb Kilometer weiter südlich einer steilen Felsrippe entlang und zuletzt durch ein enges Couloir ebenfalls auf den Grat hinauf, zu einem Punkt namens Pertuis d’Aveneyre. Hier bog der Wanderweg parallel zur Krete nach Süden ab. Nördlich lockte aber der begraste Gipfel der Pointe d’Aveneyre, der höchste Punkt der Kette, an dem diese die Hauptwasserscheide übernahm. Zwar führte kein markierter Weg zu ihm hinauf, seine Besteigung schien jedoch einfach. Ein eben von dort herunter kommender älterer Wanderer bestätigte mir dies. Im Unterschied zu mir hatte er sein Tagesziel bereits hinter sich: Er wollte zum Col hinunter, von dem er hergekommen war (eines der Autos war wohl seines), für ihn sei es heute genug («ça me suffit»), meinte er.
Von Salven begleitet
Tatsächlich erreichte ich den Gipfel ohne Schwierigkeiten. Ich stellte fest, dass die Wasserscheide einige Meter südwestlich des Gipfels auf den Grat heraufkam und dann diesem entlang nach Süden abbog. Ich kehrte um und wandte mich nun ebenfalls in diese Richtung. Um 14 Uhr war ich beim Pertuis zurück. Aus dem Hongrin-Tal herauf waren nun ab und zu Gewehrfeuer und Detonationen zu hören, offenbar war die Mittagspause der Schweizerischen Armee zu Ende. Die Wanderung setzte sich teils auf oder knapp neben dem Grat, teils weiter unten durch den Hang fort. Zum Waffenplatz hin fiel ein steiler, aber begehbarer Grashang ab, da und dort weideten Schafherden. Zum Tal der Tinière dagegen stürzten jähe Felswände hinab. Immer wieder boten sich spektakuläre Blicke zwischen Felszacken hindurch in die Tiefe und zum Rochers de Naye zurück.
Ohne den militärischen Lärm, der mich mit Unterbrüchen den ganzen Nachmittag begleitete, wäre es eine wunderschöne, einsame Wanderung. Einmal stockte mir der Atem, als mir bellende Herdenschutzhunde entgegenstürzten; glücklicherweise waren die Hirten nicht weit und riefen sie zu sich. Sonst begegnete ich niemandem. Die Einsamkeit kam auch in der Namenlosigkeit von Fluren und Gipfeln zum Ausdruck: Ich gelangte auf prächtige Aussichtspunkte ohne Namensschild, Wegweiser oder Gipfelkreuz. Einer davon musste die Stelle sein, an der sich die Hauptwasserscheide vom Grat und von der Südausrichtung verabschiedete und ostwärts in den Trog hinunter- und auf der Gegenseite zur Krete von Tour d’Aï und Tour de Mayen hinauflief. Irgendwo auf der Talsohle trennte sie den via Stausee der Saane und mit dieser dem Rhein zufliessenden Petit Hongrin von der sich in den Genfersee ergiessenden Eau Froide – wo genau, war von hier oben nicht zu erkennen.
Alarmglocken schrillen
So schön die Wanderung war, so sehr zog sie sich in die Länge – drei Stunden lang folgte ich dem Grat. Die Beine wurden schwer, die Abstände zwischen meinen Gehpausen wurden kürzer und kürzer. Beim Besteigen des letzten Gipfels, bevor der Wanderweg die Krete verliess – es war wohl der Malatraix – , verspürte ich plötzlich Krämpfe in einem Oberschenkel. Ein letzter spektakulärer Blick in die Tiefe, auf Villeneuve und das obere Ende des Genfersees, versüsste mir vorerst den Schmerz. Aber es liess sich nicht leugnen: Nach Luan würde ich es niemals vor dem Eindunkeln schaffen, es war viel zu weit. Plan B war unausweichlich.
Es folgte ein langer, steiler und anstrengender Abstieg durch Wald. Als ich auf der Sohle des engen Tals ankam – die Stelle hiess Joux Verte – , war es nach halb sieben und gemäss Wegweiser noch 1 Stunde und 50 Minuten bis in das fast 900 Meter tiefer gelegene Roche. Jetzt schrillten in meinem Gehirn die Alarmglocken.
Der Rest war ein einziger Stress. Dabei galt es ein Gleichgewicht zu halten zwischen zielstrebiger Eile und sicherheitsbewusster Beherrschtheit. Lange Zeit verlief der Weg fast ebenerdig durch den Wald, nur der Bach verschwand immer tiefer in der Schlucht. Das konnte nur heissen, dass sich der Weg einen sehr steilen und langen Abstieg für den Schluss aufsparte – also bis zum Ende des Tageslichts und wohl meiner Kräfte. Genau so war es: Als die Ebene endlich in der Tiefe sichtbar wurde und der steile Zickzack-Abstieg begann, war die Sonne längst hinter den Bergen verschwunden. Ich konnte den Weg nur noch mit Mühe erkennen und begann mich aus Angst vor Fehltritten zunehmend zu verkrampfen. Dann wie eine Erlösung: das Bellen eines Hundes, da konnten Menschen nicht mehr weit sein! Wenige Schritte später gelangte ich aus dem Wald hinaus und zwischen ersten Häusern auf eine beleuchtete Strasse. Es war Punkt halb neun – gerade noch vor der totalen Finsternis. Ich war völlig kaputt. Ein Brunnen mit herrlich kaltem Wasser, direkt neben der hier nun kanalisierten Eau Froide, rettete mich.
«Cela me suffit»: Schifffahrt statt Wanderung
Zum Übernachten musste ich bis nach Montreux reisen, in Aigle war kein Zimmer zu bekommen. Die Quittung für die Anstrengungen folgte in der Nacht: Heftige Krämpfe in beiden Beinen hielten mich lange wach. Auf einen zweiten Wandertag hatte ich keine Lust mehr. Stattdessen gönnte ich mir eine Rundfahrt auf dem See. Vom Schiff aus konnte ich gut zur Aveneyre-Kette hinaufsehen. Ob der Stress zu vermeiden gewesen wäre?, fragte ich mich. Ich sah nur eine Möglichkeit, wenn man nicht auf dem Rochers de Naye übernachten und nicht früh aufbrechen konnte: Nämlich die Etappe zu splitten, vom Col de Chaude nach Villeneuve hinabzusteigen und zu versuchen, sich für die Fortsetzung am nächsten Wandertag mit einem Taxi oder privaten Transport wieder da hinaufbringen zu lassen. «Cela me suffit» hatte der Wanderer dort oben wohl zu Recht gesagt. Der freilich hatte gut reden: Er folgte keinen Wasserscheiden. Und er hatte das eigene Auto dabei.
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