EHWS Alpin, Etappe 9: La Comballaz (Le Pilet) - Col des Mosses
Bei der Besteigung des Mont d'Or handelte es sich um eine klassische Bergwanderung, wie ich sie eigentlich gar nicht mag: rauf und wieder runter. Aber der Gipfel liegt auf der EHWS, und die anschliessende Krete ist unbegehbar: Es gibt also keine andere Wahl als die Umkehr.
Heute wollte ich nachholen, was ich gestern nicht geschafft hatte: die Besteigung des Mont d’Or, des nächsten Gipfels auf der Hauptwasserscheide. Dazu war es unvermeidlich, zunächst wieder zum 1600 Meter hohen Col de la Pierre du Moëllé zurückzukehren. Nach dem langen Abstieg von gestern – Muskeln und Knochen hatten ihn noch nicht vergessen – hatte ich freilich wenig Lust, schon in dem 700 Meter tiefer gelegenen Le Sépey damit zu beginnen – um so weniger, als es heute deutlich wärmer zu werden versprach. Ich suchte deshalb nach einer Möglichkeit, die zu ersteigende Höhendifferenz zu verringern.
Die Haltestelle Le Pilet der Buslinie von Le Sépey zum Col des Mosses schien mir dazu am besten geeignet; sie lag immerhin rund 350 Meter höher als Le Sépey. Das Problem: Der Fahrplan dieser Linie hatte keinen direkten Anschluss an jenen des Busses von Leysin, von wo ich herkam. Ich musste deshalb in Le Sépey eine volle Stunde warten; ich nutzte diese für einen Rundgang durch das schmucke Bergdorf und einen Kaffee in der örtlichen Bäckerei.
Lockender Sommersonntag
Um Viertel nach Neun stieg ich dann beim Weiler Le Pilet aus dem Bus. Ich war nicht allein: Der strahlend schöne Sommersonntag schien gar Manche in die Berge zu locken. Mit mir machte sich eine grössere Gruppe auf den gleichen Weg; glücklicherweise war sie schneller als ich und gewann schon bald einen genügend grossen Vorsprung, um mir akustische Immissionen zu ersparen.
La Comballaz (Le Pilet) - Col des Mosses | |
Etappe | EHWS Alpin, Nr. 9 |
(Fernwanderprojekt EHWS) | |
Länge / Zeit | 14,2 km / 5h05' |
Auf- / Abwärts | 950 m / 827 m |
Höchster Punkt | 2'175 m (Mont d'Or) |
Tiefster Punkt | 1'320 m (Le Pilet) |
Fernwanderwege | --- |
Durchgeführt | Sonntag, 16. Juli 2017 |
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Als ich nach eineinhalb Stunden ordentlich schwitzend auf dem Pass ankam, war die Wandergruppe dort wohl bereits seit längerem am Rasten. Nach einer kurzen Verschnaufpause machte ich mich an den „goldenen“ Hauptgang des Tages, den Mont d’Or eben (deutsch: „Goldberg“). Direkt wurde es steil, auf einem Fusspfad über baumbestandenes Gras hinauf. Weitere Begegnungen mit der Gruppe waren unwahrscheinlich: Schon bald sah ich unter mir, wie diese sich am Gegenhang in Bewegung setzte; ihr Ziel lag somit wohl eher dort, wo ich gestern hergekommen war: beim Schrattenkalk der Tour de Famelon und den Truex.
Die Erinnerung an meine dort erlebten Mühen verblasste schon bald unter dem Eindruck der Gegenwart: Mein Pfad folgte genau dem ziemlich scharfen Westgrat des Berges (und damit der EHWS) – und wurde zusehends wurzliger, steiniger und steiler.
Zur Linken lag der Hongrin-Stausee in der Tiefe, zur Rechten in noch grösserer Tiefe der Taleinschnitt der Grande Eau, während es galt, mich über kleinere und grössere Steine empor zu stemmen oder mich mit Hilfe der Hände hinaufzuziehen. An regelmässiges Gehen war nicht zu denken, nach allen paar Schritten benötigte ich einige Momente zum Atemholen, immer wieder auch Selbstüberwindung zur Fortsetzung.
Der Lohn des Goldbergs
Den Gipfel erreiche ich erschöpft, der Lohn ist freilich gross: Er besteht aus einer fantastischen Rundsicht vom Jura über den Genfersee und die Dent de Lys und andere von mir bestiegene Wasserscheiden-Gipfel über die Freiburger und Berner Voralpen zum Diablerets-Massiv mit dem Oldenhorn im Osten und nach Süden hin zu einem Meer von Gipfeln des Chablais, des Wallis und der Savoyer Alpen mit dem höchsten aller Alpengipfel, dem Mont Blanc. In der Tiefe Le Sépey direkt unter mir und auf einer Terrasse über dem Tal Leysin. Und geradewegs vor mir die gezackte Fortsetzung der Mont d’Or-Kette mit dem Gros Van als höchstem Punkt, an dessen Fuss hingebettet die Häuser und der Campingplatz von Les Mosses mit der rechts davon aufragenden Pyramide des Pic Chaussy: Das entspricht dem weiteren Verlauf der EHWS – aber ich kann auch klar erkennen, dass der Gros Van für „normale“ Wanderer nicht über den Grat erreichbar ist und einen separaten Aufstieg erfordert.
Auch Stille gehört zum Lohn: Ausser einem jungen Paar, das eifrig vor allen möglichen Ausschnitten der Kulisse Selfies schiesst oder sich gegenseitig fotografiert, bin ich – dem prächtigen Sonntag zum Trotz – ganz allein hier oben. Ich kann mich deshalb im Gras ausbreiten und mir Zeit nehmen zum Geniessen von Sonne und Aussicht – und ebenso für Verpflegung und Erholung, denn mir schwant: Auch der Abstieg – den gleichen Weg hinunter, den ich heraufgestiegen bin, einen andern gibt es nicht – wird Kraft kosten! In der Tat setzen mir die unregelmässig grossen Schritte, die ich nehmen muss, das ständige Suchen nach Halt und die Schläge durch die oft unvermeidlichen kleinen Sprünge ordentlich zu; bald schmerzt jeder Schritt, und die Ankunft auf dem Pass unten ist schliesslich eine Erlösung. Da freilich gesellt sich zu dem körperlichen Ungemach noch ein ausrüstungstechnisches hinzu: Unter meinem rechten Schuh scheint etwas seltsam Schleifendes, Bremsendes zu kleben. Es ist die Sohle, die sich auf einer Länge von mehreren Zentimetern gelöst hat!
Auf loser Sohle
Auf der Terrasse des Restaurants des Chamois nehme ich eine Lagebeurteilung vor: Den Gros Van habe ich angesichts meines bisherigen Verschleisses ohnehin bereits auf Morgen aufgeschoben; die sich verselbständigende Schuhsohle setzte nun meinem Aktionsradius zusätzliche Grenzen. Der Weg bis zum Col des Mosses, wo ich ein Hotelzimmer gebucht hatte, schien mir unter den gegebenen Umständen zu lang. Ich wollte auf möglichst direktem Weg zur nächsten Bushaltestelle gelangen. Diese lag beim Weiler La Comballaz, tiefer gelegen als mein Ziel, jedoch etwas höher als Le Pilet, der Ausgangspunkt von heute Morgen. Noch langsamer als sonst, um sowohl Schmerzen als auch Stolpern möglichst zu vermeiden, trottete ich also auf einem moderat abwärts geneigten Waldweg der Südflanke der Mont d’Or-Gros Van-Kette entlang. Das ging recht gut – an eine Beschleunigung war jedoch nicht zu denken. Und so musste ich knapp vor La Comballaz tatenlos zusehen, wie der Bus unter mir hielt und kurz darauf wieder davonfuhr. Der nächste, so verriet der an der Haltestelle angebrachte Fahrplan, fuhr erst in zwei Stunden. So lange wollte ich nicht warten. Also gings prekär besohlten Fusses wieder aufwärts, nochmals 45 Minuten bis zum Hotel auf der Passhöhe von Les Mosses. Wäre ich nicht zur Bushaltestelle hinabgestiegen, sondern hätte gleich Les Mosses angesteuert, ich hätte einen weniger weiten Weg mit weniger Höhendifferenz gehen müssen…
Bei der Ankunft erkannte ich schnell, dass sich mein Schuhproblem hier wohl nicht lösen liess: Beide Sportgeschäfte, die ich sah, waren geschlossen und hatten ihr Sortiment offensichtlich auf Wintersport ausgerichtet. Und so folgerte ich beim kühlen Bier in der goldenen Vorabendsonne: Meine Wanderung musste hier vorerst abgebrochen werden, der Gros Van noch länger warten. Statt eines dritten Wandertages würde ich am Morgen die Rückreise antreten. Und die Tage der ziemlich genau zehn Jahre alten Schuhe, die mich unter anderem von Bern nach Amsterdam, in Andalusien von Tarifa nach Ronda und in den Voralpen von Châtel St. Denis bis eben hierhin auf den Col des Mosses getragen hatten, waren gezählt. Etwas Gutes hatte die kaputte Sohle ja vielleicht auch: Sie ersparte mir die „Schmach“, den Abbruch mir gegenüber mit schmerzenden Gliedern und Muskeln begründen zu müssen...
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