EHWS Mittelland, Etappe 1: La Sarraz - Etagnières
Vom Jurasüdfuss aus startete ich bei herbstlich-düsterer Stimmung ins Gros de Vaud, die Kornkammer der Schweiz. Getreide sah ich freilich keins wachsen: Das Ackerland lag brach unter einer dichten Hochnebeldecke dahingebreitet. Aber emsiges Treiben traf ich an: Ich streifte und überquerte Verkehrsachsen, umging hier einen Steinbruch, verirrte mich dort in ein Kiesabbaugebiet und zog mir im Morast gleich zwei Schuhe voll heraus.
Ich war etwas spät dran, weil ich am Morgen in Bern noch etwas zu erledigen hatte, und reiste deshalb mit dem Auto an: Es war schon halb zwölf, als ich beim Bahnhof La Sarraz parkierte und mich auf den Weg machte. Darauf, dass sich die Hochnebeldecke wie vorhergesagt gegen Mittag auflösen könnte, deutete nichts hin – aber abgesehen davon herrschte ganz gutes Wanderwetter: Es war nahezu windstill, trocken und kühl, aber nicht kalt.
Das Städtchen La Sarraz liegt am Südfuss des – heute freilich unsichtbaren – Jura, auf der westlichen Schulter des Mormont, eines schmalen Geländeriegels, der sich ins Mittelland hineinschiebt. Dieser ist immerhin hoch und offenbar auch hart genug, um zwei aus dem Jura herunterpurzelnde und beidseits am Städtchen vorbeiziehende Flüsse am Zusammenströmen zu hindern: Auf der einen Seite zwingt er die Venoge zu einer Kehrtwende nach Süden Richtung Genfersee (und damit via Rhone zum Mittelmeer), auf der andern drängt er den Nozon nach Norden ab, durch die Orbe-Ebene dem Neuenburgersee und damit dem Rhein und der Nordsee entgegen.
La Sarraz - Etagnières |
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Etappe | EHWS Mittelland, Nr. 1 |
(Fernwanderprojekt EHWS) | |
Länge / Zeit | 20,6 km / 5h43' |
Auf- / Abwärts | 367 m / 223 m |
Höchster Punkt | 629 m (Etagnières) |
Tiefster Punkt | 450 m (Canal d'Entretroches) |
Fernwanderwege | --- |
Durchgeführt | Donnerstag, 15. November 2018 |
Weitere Facts & Figures | |
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Wo dem Jurakalk zu Leibe gerückt wird
Das Städtchen liess ich links liegen, stattdessen begab ich mich über das Tunnelportal der Bahnlinie Lausanne - Paris, die den Felsriegel direkt hinter dem Bahnhof unterquert, auf einen geraden Weg, der jenseits der Geleise nach Südosten führt. Den Mormont-Hang zur linken, die Bahnlinie und den flachen Venoge-Talboden zur rechten Seite schritt ich einem kleinen Weinberg entlang, durchquerte eine Einfamilienhaussiedlung und tauchte in einen Wald ein, bis der Weg sich mit einer Spitzkehre dem Hang zuwandte und schräg an diesem hinaufstieg. Schon war ich oben – und blickte jäh in den Abgrund eines Steinbruchs hinunter, in dem emsiger Betrieb herrschte: Hier rückte der Zementkonzern Holcim dem Jurakalk zu Leibe! Die in den Berg gesägte Schneise mit ihren gelblich-braun-weissen, terrassierten Felswänden bot einen spektakulären Anblick, ich war zwischen Abscheu und Faszination gespalten.
Ganz und gar nicht spektakulär präsentierte sich hingegen wenig später der erste Kulminationspunkt auf dem Mittelland-Abschnitt (oder geologisch vielleicht richtiger: der letzte auf dem Jura-Abschnitt) der EHWS: Die 604 Meter hohe Kuppe des Mormont erwies sich als winzige, von Bäumen umstandene Lichtung ohne jede Aussicht.
Wo einst Schiffe durch den Berg fuhren
Der weitere Weg über den Hügelrücken führt durch stille Waldpartien, in die sich aber immer wieder Zeichen des nahen Wirtschaftslebens hineindrängen. Nebst der ausufernden Präsenz des Steinbruchs ist es mal der Lärm von Strassen und Bahnlinien, mal ein Post-Verteilzentrum oder andere Industrieanlagen, auf die man hinuntersieht, mal ein Erdöllager, das man passiert. Dass der zivilisatorisch-industrielle Druck nicht erst seit gestern auf die Gegend einwirkt, erfährt man spätestens, wenn der Weg wieder den Talboden erreicht und man dort – auf dem mit 450 Metern niedrigsten Punkt, den die EHWS auf Schweizer Territorium berührt – am Südeingang der Klus steht, die den Mormont-Riegel der Breite nach durchschneidet: Durch diese Klus führte einst der Canal d’Entreroches hindurch, ein Kanal, der die Venoge mit der Orbe und dem Neuenburgersee verband und der den Schiffsverkehr zwischen Rhein und Rhone und damit zwischen Nordsee und Mittelmeer hätte ermöglichen sollen. Letzteres blieb zwar eine Vision, aber als regionaler Wasserweg leistete der Kanal während rund anderthalb Jahrhunderten seine Dienste. Dies und mehr Wissenswertes lässt sich auf einer Reihe von Informationstafeln nachlesen, die den durch die enge, lauschige Klus verlaufenden Wanderweg säumen, und Mauerreste des einstigen Kanaltroges zeugen noch heute davon. Beim Ausgang schwingt sich der Weg auf eine Anhöhe hinauf, und der Blick fällt auf eine zweispurige Bahnlinie hinunter: Man steht über dem Nordportal des Doppeltunnels der Intercity-Linie von Genf und Lausanne nach Neuchâtel.
Mit einer Spitzkehre verabschiedete sich meine Route von der Klus. Durch schönen Mischwald gings über raschelndes Laub sanft bergan auf eine Lichtung mit Namen „Tilèrie“ zu, an deren höchstem Punkt ich erneut die EHWS überschritt. Schon kündigte sich der nächste Verkehrsweg an: In dem bewaldeten Hang über mir erblickte ich ein Autobahnviadukt; über dieses musste ich hergekommen sein, es gehörte zur A1 Bern - Genf. Durch Wald und Feld stieg ich zu ihr hinauf und überquerte sie auf einer Strassenbrücke - etwa an der Stelle, wo sie aus der Orbe-Ebene heransteigend das Niveau des Gros de Vaud erreichte.
Schwere Decke, ödes Brachland
Die leicht erhöhte Lage des als Kornkammer bekannten Plateaus machte sich vor allem durch eine grösseren Nähe zur Hochnebeldecke bemerkbar: Diese lag noch schwerer und dunkler über dem Land und liess die Brache noch schwärzer erscheinen. Meine Wanderrichtung wandte sich nach Süden und setzte sich zwischen der von hier aus nicht sichtbaren Talsenke der ebenfalls nach Süden fliessenden Venoge zur Rechten und dem sich wenige Kilometer weiter links in entgegengesetzter Richtung ebenso unsichtbar durch das Plateau schlängelnden Talent fort. Wahrscheinlich wäre der offizielle, näher zum Talent verlaufende Wanderweg genussvoller – aber ich wollte möglichst nahe an der Wasserscheide dran bleiben. Dafür nahm ich die eine oder andere Unannehmlichkeit in Kauf, ging neben der Autobahn her oder auf schnurgeraden unmarkierten Betonwegen durch ödes Brachland oder trottete zwischen den Dörfern Oulens-sous-Echallens und Bettens – mit Blick auf das hübsche Schlösschen von Saint-Barthélemy an dem vermutlich hübschen Flüsschen Talent – auf der nicht allzu viel, aber schnell befahrenen Hauptstrasse dahin.
Vom Paradies in die Hölle
Bei einem Friedhof hinter Bettens verliess ich die Strasse und steuerte auf einem unmarkierten Feldweg eine Geländekante an. Der Friedhof hiess „En Paradis“ – aber der Anblick, der sich mir auf der die EHWS bildenden Kante oben bot, liess mich eher an die Hölle denken: Zum zweiten Mal heute stand ich vor aufgerissenem Boden. Nach den Kalkfelsen am Mormont galt der Aufriss hier aber der für das Mittelland typischen Molasse. Schier endlos wirkte das sich unter mir ausbreitende Kies- und Sandabbaugebiet - umso mehr, als es sich im Nebel und der einbrechenden Dämmerung regelrecht verlor. Da wurde also mitten in der Kornkammer dem Korn der Boden unter den Füssen weggegraben, dachte ich – aber irgendwo musste der Beton ja herkommen, mit dem das Mittelland zugepflästert wurde!
Einen Weg fand ich hier nirgends mehr, ich entschloss mich zu einer südlichen Umgehung. Angesichts des rasch schwindenden Tageslichts galt es keine Zeit mehr zu verlieren. Also stapfte ich recht unzimperlich die Böschung hinunter und setzte den Fuss in die Baggerspur unter ihr – und Platsch! stak mein erster Schuh auch schon im aufspritzenden Morast drin, und der andere folgte ihm sogleich. Sie wieder herauszuziehen erwies sich zum Glück nicht als schwierig, nur waren sie jetzt von einer gelblich-hellbraunen Masse überzogen und dadurch etwas schwerer. Schliesslich fand ich einen Weg, der zwischen Kiesgrube und Waldrand hindurch ostwärts führte. Die Lichter der sich auf dem Areal tummelnden Lkw, Bagger und anderen Raupenfahrzeuge liessen die sich eintrübende Szenerie immer surrealer und unwirtlicher anmuten. Ich freute mich wie selten, als ich nach dem Passieren zahlreicher Erd- und Kiesberge, Bauten und Maschinen unterhalb des Dorfes Bioley-Orjulaz endlich ein sicheres Ufer in Form einer normalen Strasse erreichte.
Wettlauf gegen das Einnachten
Ich überquerte diese und schlug sofort einen Betonweg ein, der geradewegs zum Bois d’Orjulaz hinführte. Im Laufschritt durchquerte ich dieses flache Waldstück und sah beim Austritt erleichtert das Ziel vor mir: Leicht erhöht jenseits eines breiten Wiesen- und Ackerstreifens lag das Dorf Etagnières. Zwanzig Minuten zügig drauflosschreiten, dann war dessen schmuckes Bahnhöflein erreicht. Es war Viertel nach fünf – und kurz darauf war es Nacht.
Etagnières hatte ich aus verkehrstechnischen Gründen als Tagesziel gewählt, das Dorf liegt an einer Schmalspurbahnlinie. Um zum Auto zurück zu gelangen, musste ich zwar zweimal umsteigen (von der Schmalspurbahn auf einen Bus und von diesem auf die SBB), aber dank gut abgestimmter Anschlüsse gelangte ich flott wieder nach La Sarraz. Auf der Autobahn A1 fuhr ich schliesslich nach Hause – vielleicht auf Beton, der aus eben jener Kiesgrube stammte, deren Rohstoffe jetzt auch an meinen Wanderschuhen klebten.
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