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Vor Sisyphus verneigt, dem Zerberus getrotzt

EHWS  Vogesen, Etappe  2: Les Fèches (L'Envol) - Le Baudy

Oberes Moseltal, Blick talaufwärts.
Oberes Moseltal, Blick talaufwärts.

Eine schöne Wanderung stehe mir bevor, prophezeite man mir beim Aufbruch; an einer Stelle jedoch müsse ich mich in Acht nehmen, dort lauere Ungemach. Die orakelähnliche Voraussagung stimmte mich auf die Figurenwelt der griechischen Mythologie ein: Die nicht enden wollenden Wechsel von Auf- und Abstiegen erinnerten mich an Sisyphus, und die Hunde, die mich abschrecken wollten, an den Höllenhund Zerberus.

Meine Orakel-Priesterin hiess Nathalie, sie war eine der beiden Gastherrinen und selbst Fernwanderin. Sie kannte die vor mir liegende Strecke und verhiess mir Wandergenuss ohne besondere Herausforderungen – jedoch eben mit der einen Ausnahme: Etwa auf halbem Weg gebe es jemanden, der keine Freude daran habe, dass der Wanderweg direkt an seinem Hof vorbeiführe, und der deshalb die Markierungen entfernt habe; dort müsse man gut aufpassen, sonst könne man sich verirren – «perdre» (also «verlieren»), wie sie sagte.

Ich merkte es mir und zog voller Tatendrang los: Die Sonne schien und liess die Landschaft trotz lockerer Bewölkung viel freundlicher erscheinen, und wärmer als gestern war es auch. Zwischen satt spriessenden und blühenden Wiesen stieg ich nochmals zu dem von gestern bekannten Kamm hinauf, um dort wieder auf den GR7 einzuschwenken.


Les Fèches - Le Baudy
Etappe EHWS Vogesen, Nr. 2
  (Fernwanderprojekt EHWS)
Länge / Zeit 23,5 km / 7h09'
Auf- / Abwärts 674 m / 563 m
Höchster Punkt 770 m (vor Le Baudy)
Tiefster Punkt 547 m (unt. Larraye)
Fernwanderwege GR7
Durchgeführt Freitag, 31. Mai 2019
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Der führte mich als erstes in einem Bogen auf die Westseite einer Kammschulter hinüber und dort zu einer Zwischenterrasse mit hübschen, von Sträuchern und Schilf umstandenen Teichen hinunter; ein Bächlein plätscherte dahin, Frösche quakten, und eine Familie mit Kindern war dabei, ein Sonnensegel ins Gras zu pflanzen – Sommer lag in der Luft!

 

Vom Naturfreundehaus «La Beuille» aus, das ich weiter unten passierte, liess sich gut überblicken, was mir heute unter die Füsse kommen würde: Denn es sah von seiner exponierten Hanglage ins obere Moseltal hinab und durch dieses talaufwärts der Morgensonne entgegen zu den «Ballons des Vosges» hinauf, die den Horizont vor mir abriegelten. Das Profil des sich von Süd nach Südost krümmenden Tals glich einem breiten «U»: Der flache, stark bebaute Boden wölbte sich an den Rändern sanft den nach oben hin steiler ansteigenden Hängen entgegen. Mein Weg zog sich auf der von mir aus gesehen rechten (eigentlich aber linken) Talseite durch den steileren Bereich des Hanges, unterhalb des bewaldeten Kamms, über den die Wasserscheide verlief. Und weil dieser Kamm sich krümmte und zu Seitenkämmen und Schultern verzweigte, vollführte auch meine Wanderroute zahlreiche Richtungs- und Neigungsänderungen.

Nicht alles, was sich gleicht, ist gleich

Allgegenwärtig: Ginster.
Allgegenwärtig: Ginster.

So ging es nach Aufstiegen meist sofort wieder abwärts; mal durch Wald, dann wieder zwischen Wiesen mit blühenden Ginstersträuchern, mal auf Natur-, mal auf Hartbelag. Die Ausblicke ins Moseltal glichen sich zwar, veränderten sich aber doch von Mal zu Mal leicht: So sah ich das Dorf Rupt-sur-Moselle, das von einem weissen, am Gegenhang aus dem Wald herausstechenden Kreuz überragt wurde, immer wieder aus anderer Perspektive, weil ich es, der Talkrümmung folgend, halbwegs umrundete. Die Auf- und Abstiege glichen sich so, dass ich mir wie Sisyphus vorkam, und auch die Höfe, an denen ich vorbeikam, glichen sich. Einer freilich prägte sich mir besonders ein: Denn zuerst musste ich ein furchterregendes Hundegebell über mich ergehen lassen, dessen Verursacher sich glücklicherweise als eingesperrt erwies, und gleich nach dem Hof stand ich vor einer unmarkierten Weggabelung. Nach etlichem Hin und Her zwischen zwei in den Wald eintauchenden Wegen hatte der Bauer, der mich wohl beobachtet hatte, ein Einsehen: Er kam mir entgegen und wies mir den richtigen Weg; auf dem andern, meinte er mit wegwerfender Handbewegung, würde ich mich verlieren («vous vous perderez!»). Es sei hier halt schon wiederholt eingebrochen worden, fügte er noch hinzu. War er etwa jener Bauer, der die Wanderwegzeichen entfernt hatte?

Mirabellentorte als Lohn

Allgegenwärtig: Wald.
Allgegenwärtig: Wald.

Jedenfalls traf ich kurz darauf tatsächlich wieder auf einen GR7-Wegweiser, der mich auf die Höhe des Kamms hinauf wies. Dort konnte ich – es war in der Nähe des Fort de Rupt, einer unterirdischen Festung – erstmals am Horizont das Band des Jura erkennen. Sofort ging es aber erneut abwärts und wenig später auf einen weiteren Hof zu, von dem mir – und diesmal mehrstimmig – entgegengebellt wurde. Und als ich zwischen den Gebäuden drin war, musste ich zur Kenntnis nehmen, dass ich es hier mit zwei frei laufenden Hunden zu tun hatte. Diese liessen mich zwar vorbeigehen, hefteten sich dann aber an meine Fersen und schnappten danach. Eine ältere Bäuerin sah dem Geschehen scheinbar ungerührt zu, und als sie endlich etwas schrie, war ich mir nicht sicher, ob es den Hunden oder mir galt. Immerhin liessen die Kläffer da von mir ab, und mein Herzklopfen legte sich wieder.

Auf dem Pass Col du Mont de Fourche, den ich kurz darauf erreichte, entschädigte ich mich mit einem Stück «Tarte aux mirabelles» für den ausgestandenen Schrecken. Das Hotel war ausgebucht, und die Sonnenterrasse des Restaurants mit Motorrad- und Radfahrern gut besetzt; der Einschnitt in dem Vogesenkamm wurde auch schon von der Tour de France beehrt – eine Rennrad-Skulptur und ein mehrsprachiges Willkommensschild zeugten davon. Die Passhöhe liegt sowohl auf der EHWS als auch auf der Grenze zwischen den Regionen Grand-Est und Bourgogne-Franche-Comté und der Departemente Vosges und Haute-Saône.

Finnland lässt grüssen

Etang du Chêne.
Etang du Chêne.

Der GR7 setzte sich weiterhin auf der Moselseite nach Südosten fort, zunächst für ein langes, gemächlich ansteigendes Stück dem Hang entlang und dann mit einem kurzen Steilaufstieg wieder auf Kammhöhe hinauf. Überrascht sah ich mich da am steinigen Ufer eines idyllischen kleinen Waldsees; in seiner klaren und stillen Oberfläche spiegelten sich Birken und Tannen, und am Ufer stand ein blockhausähnliches Gebäude mit Bootssteg. Ich hatte den nordöstlichen Rand eines sich nur sanft Richtung Saône-Becken absenkenden Hochplateaus erreicht, das in Anlehnung an Finnland «Plateau des 1000 Etangs» (Plateau der 1000 Teiche) genannt wird. Auch mein Tagesziel lag auf diesem Plateau; aber um ein langes Stück Gehen auf der Strasse D57 zu vermeiden, ging ich mit dem GR7 nochmals fast 80 Höhenmeter bergabwärts und stieg dann auf einem lokalen Waldwanderweg wieder zu diesem hinauf. An weiteren Seen und Teichen vorbei erreichte ich um halb sieben Les Baudy, eine ziemlich exakt auf der EHWS gelegene Privatunterkunft mit Reitstall und Mietpferden.

Joëlle, die Gastherrin, erwartete mich bereits, denn sie hatte sich schon am Nachmittag per SMS nach meiner ungefähren Ankunftszeit erkundigt, und wie sich zeigte, hatte ich diese trotz Zerberussen und Mirabellentorte ziemlich richtig geschätzt. Ob ich hingegen Nathalies morgendliche Warnung richtig verstanden hatte – also welchen der beiden Höfe sie gemeint hatte – , darüber war und bin ich mir nicht sicher. Orakelsprüche waren nun einmal schon zu Delphis Zeiten dafür bekannt, zweideutig zu sein.


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