EHWS Andalusien, Etappe 33: Refugio Poqueira - Pico Veleta - Refugio Poqueira
Geplant war eine klassische Gipfelbesteigung mit identischem Rückweg. Daraus geworden ist eine abwechslungs- und erlebnisreichere Rundwanderung. Nachdem ich eine entscheidende Abzweigung verpasst hatte, war ich schon drauf und dran, den Veleta aus dem Programm zu streichen. Da erkannte ich eine Chance, ihn auf einem Umweg doch noch zu erreichen. Alle Voraussetzungen dazu waren günstig, die Risiken kalkulierbar und eine Alternative vorhanden. Ein Angebot des Augenblicks, das man nicht ausschlagen sollte, fand ich.
Durch die Hangfurche des Río Seco hoch zum Pico Veleta und auf demselben Weg wieder zurück zur Poqueira-Hütte: Das war etwas, das ich für in einem Tag machbar hielt. Rund sieben Stunden musste man dafür schon rechnen, aber wandertechnisch sollte die Besteigung dieses Dreitausenders im Sommer keine Schwierigkeiten bieten, wie mir von andern Hüttengästen bestätigt wurde. Nur die Orientierung konnte ein Problem sein, warnte mich der französische Zimmer- und Tischgefährte, der wie ich allein unterwegs war und den Veleta schon besucht hatte: Ein Weg sei nicht überall erkennbar und Markierungen gebe es keine, bloss aufgeschichtete Steinkegel, da müsse man aufpassen.
Um sieben Uhr gabs Frühstück, und wie auch andere Gäste zog ich gegen halb neun los – für einmal nur leicht bepackt. Die Alpterrasse lag noch vollständig im Schatten des Mulhacén. Der Himmel versprach erneut wunderbares Wetter, im Süden konnte man bis zum Meer sehen.
Refugio Poqueira - Pico Veleta - Ref. Poqueira |
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Etappe | EHWS Andalusien, Nr. 33 |
(Fernwanderprojekt EHWS) | |
Länge / Zeit | 20 km / 7h10' |
Auf- / Abwärts | 1'071 m / 1'071 m |
Höchster Punkt | 3'395 m (Pico Veleta) |
Tiefster Punkt | 2'500 m (Refugio Poqueira) |
Fernwanderwege | ---- |
Durchgeführt | Freitag, 19. Juli 2019 |
Weitere Facts & Figures | |
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Das Startstück führte flach durchs Gras bis zu einem Bergbach, wo der Pfad sich hangaufwärts dem Mulhacén zuwandte. Die erste Herausforderung stellte aber die von gestern bekannte Mutterkuhherde dar, die ausgerechnet jenes Gras zum Frühstück auserkoren hatte, über das man hätte gehen sollen. Ich war froh, in ein paar Schrittlängen Abstand hinter einem jungen Paar hergehen zu können, das den Tieren mit dem nötigen Respekt auswich und gleichzeitig Ruhe verströmte. Beim Bach angelangt, den die Kühe und Kälber ebenfalls in Beschlag genommen hatten, begannen die Beiden diesseits bergauf zu steigen. Nun wusste ich, dass man Richtung Veleta nach links abzweigen und den Río Mulhacén – so hiess der Bach – irgendwo überqueren müsste; da ich zwischen den Tieren keinen Bachübergang erkennen konnte, erwartete ich ihn weiter oben und stieg weiterhin dem Paar nach. Auf dem recht steilen Pfad gewann ich aber rasch an Höhe – und als ich mir endlich eingestand, dass ich den Übergang bei den Kühen unten verpasst haben musste, konnte ich mich zu einer Umkehr nicht mehr motivieren. So begann ich mich mit dem Verzicht auf den Veleta abzufinden und mich stattdessen auf den Mulhacén einzustimmen, den ich nun eben einen Tag früher besteigen würde. Morgen würde mir dann nur der Weg nach Trevélez hinunter übrigbleiben.
Entscheidung am Fuss des Mulhacén
Ob all des Überlegens spürte ich die körperliche Anstrengung des Steigens kaum, ich liess Steinkegel um Steinkegel hinter mir und war überrascht, wie bald ich die erste Steilstufe hinter mir hatte und auf einer flacheren Mulde an die Sonne gelangte. Hier wuchsen zwischen dem Gestein nur noch kleine Blümchen und wenig Gras, dafür war dieses von einem frischen, kräftigen Frühlingsgrün, das sich von den Felsen ebenso abhob wie von zwei dunkelblauen Seelein («Lagunas», wie sie hier genannt werden). Gegen Viertel nach zehn – weniger als zwei Stunden nach dem Aufbruch – erreichte ich die «Piste», eine ehemalige Strasse, die sich auf rund 3000 Metern Höhe unterhalb der Gipfel dem Hauptkamm entlang zieht. Rechts von mir ragte der Mulhacén wie ein mächtiger, steiler Schutthaufen empor. Mit dem Rücken zu diesem setzte ich mich hin und genoss die grossartige Berglandschaft: Zu meiner Rechten öffnete sich ein halbrunder Kessel (spanisch: «caldera»), dessen Wand aus rötlich-gelblichem Fels bestand und auf dessen Boden eine Lagune glitzerte, in der sich ein weiter oben hängengebliebener Rest eines Schneefeldes spiegelte. Während die Piste sich südwärts um den Bergrücken des Loma Pelá herum schlang, führte ein Fusspfad nördlich an der Lagune vorbei durch die Innenwand des Kessels direkt auf den Rücken hinauf. Auf beiden Wegen aber, dies zeigte die Karte, konnte man zum Veleta gelangen – nur war schwer abzuschätzen, wieviel Zeit dafür nötig wäre, er war von hier aus nicht zu sehen. Eigentlich nahm ich an, dass es zu weit wäre – andererseits war der Gedanke aber verlockend, auf diese Weise sogar mehr von der Sierra Nevada zu sehen als geplant. Und je länger ich hin und her überlegte, desto machbarer schien es mir: Es war noch früh, das Wetter prächtig und stabil, die grösste Steigung lag bereits hinter mir, ich fühlte mich topfit und war in Hochstimmung, und schlimmstenfalls konnte ich immer noch umkehren und auf demselben Weg zurückgehen. Die Gelegenheit bot sich unerwartet, und sie würde es wohl kein zweites Mal in meinem Leben tun. Würde ich es später nicht bereuen, sie nicht angenommen zu haben?
Die Frage beantworteten meine Beine wie von selbst, ich konnte nur feststellen, dass sie sich in Bewegung setzten, vom Mulhacén weg in Richtung der wohl von einem verschwundenen Gletscher ausgeschliffenen Caldera. In der Nähe der Lagune kam ich an einer gemauerten Schutzhütte in der Form eines umgestülpten Bootes vorbei; eine Familie mit Kindern hielt hier gerade Rast, von einigen neugierigen und überhaupt nicht scheuen Iberiensteinböcken beschnuppert. Die Durchsteigung der Kesselwand erwies sich als nicht ganz einfach, es gab einzelne enge Stellen unter überhängendem Fels hindurch, wo die Hände mithelfen mussten. Aber es war spektakulär und die Belohnung grosszügig: Etwa vierzig Minuten nach der Entscheidung stand ich auf der Kante oben, 3180 Meter hoch auf einem flach gewölbten, steinigen Sattel zwischen den Spitzen des Loma Pelá und des Puntal de la Caldera, und konnte den gezackten Kamm vom Mulhacén bis zum Veleta überblicken. Dass der Letztere ausser Reichweite liegen könnte, war von hier aus kaum noch vorstellbar.
Europas höchste Bergstrasse
Es war ein überwältigender Moment – nicht zuletzt dank der Einsamkeit, in der ich ihn erlebte – , aber ein zügiger Wind vertrieb mich bald wieder von hier. Über flach abfallendes Gelände, das mit zersplittertem Schiefergestein bedeckt war, ging es wieder abwärts, bis ich nach einigen Minuten wieder auf die Piste gelangte. Dieser folgte ich nun unterhalb des Kamms über mehrere Kilometer, immerzu flach oder sanft aufwärts. Die «höchste Bergstrasse Europas», wie sie, obwohl heute für den motorisierten Verkehr gesperrt, in Reiseführern stolz genannt wurde, war schlecht unterhalten: Immer wieder lagen Felsblöcke auf ihr, manchmal sogar ganze Steinschlagkegel, die für Biker, von denen mich etliche passierten und kreuzten, lästige Hindernisse darstellten. Wandernd hingegen kam man gleichmässigen Schrittes voran. An einer Biegung durchbrach die Strasse einen Nebenkamm durch eine spektakulär aus dem Felsen gehauene Bresche; an andern Stellen, eine davon hiess «Collado del Lobo», streifte sie Lücken im Kamm, an denen Steinböcke herumkraxelten und durch die sich atemberaubende Tiefblicke in die steil abfallende und zerklüftete Nordflanke boten; das waren Berührungen mit der Wasserscheide, denn dort unten lag das Quellgebiet des Genil, des längsten Nebenflusses des zum Atlantik fliessenden Guadalquivir, während man auf der andern Seite Richtung Mittelmeer blickte. Dann, ich war schon unterhalb des Veleta-Gipfels, auf dem man ein helles, vermutlich zur Skistation gehörendes Gebäude erkennen konnte, sah ich einen Fusspfad durchs Gestein abzweigen; ich wollte ihn schon einschlagen, als ich weiter oben einige Farbtupfer entdeckte, die sich beim Blick durchs Fernglas als Menschen entpuppten, die sich durch eine Felswand hangelten. Das sah mir nicht ungefährlich aus, weshalb ich mich entschied, auf der Piste zu bleiben. Diese strich unter dem Veleta vorbei noch ein stattliches Stück nach Westen, bevor sie sich in zwei scharfen, langgezogenen und von Steinschlag übersäten Serpentinen auf den Kamm zum Carihuela-Pass hinaufschwang, wo eine Schutzhütte des gleichen Bautyps wie diejenige vom Morgen stand. Plötzlich sah man über die Skianlagen und -pisten am Nordhang hinab und über ein riesiges weisses Radioteleskop und den Retorten-Kurort Pradollana hinweg ins Becken von Granada hinunter. Tief unten, am Fuss des Gebirges, war vage die Stadt im Dunst erkennbar.
Auf der Nordseite des Grats waren nun noch die letzten 200 Höhenmeter zu bewältigen; nach einem halbstündigen Aufstieg über eine Halde mit Lockergestein waren auch sie geschafft, und ich stand auf dem Pico de Veleta, mit 3397 Metern der bisher höchste Punkt auf der EHWS, auf dem ich je gestanden hatte! Mit einigen Bikern und anderen Wanderern teilte ich einen prächtigen Rundblick: Zusätzlich zur bereits vorher sichtbaren Gegend reichte er im Westen bis zu den Silhouetten der Sierras de Almijara, Tejeda und Alhama. Allerdings hatte sich die Fernsicht im Lauf des Tages eingetrübt, Dunst hatte die Luft erfüllt.
Farbtupfer im Fels
Ich verweilte eine gute halbe Stunde hier oben, dann war es halb drei und somit an der Zeit, die Rückkehr anzutreten. Mein Ziel, das Refugio Poqueira, war an der Südflanke unten als kleiner Punkt sichtbar, es galt nur noch den Weg zu ihm zu finden. Ich stieg wieder zum Carihuela-Pass hinab; von hier führte die Piste – auf dieser Seite sichtlich in einem besseren Zustand – nach Pradollana hinunter, ich ging aber wieder über den Pass auf die Südseite zurück. In der ersten Serpentine zweigte ich auf einen Fusspfad ab. Es musste der Weg sein, den ich von unten her als zu heikel verschmäht hatte – aber nun, da ich immer wieder Leute auf ihm heraufkommen sah, war die Neugier stärker. Tatsächlich gelangte ich alsbald in ein Felsband hinein, durch das ein kaum mehr als schuhbreiter Sims führte; zunächst war dieser mit Ketten gesichert, aber dann folgten ein paar Meter, auf denen man sich nur mit den Fingerkuppen an einer Kante halten konnte – für jemanden, der von der Piste aus heraufschaute, war man da nur ein Farbtupfer im grauen Fels, wie ich wusste. Gut beraten, wer die Stöcke zuvor im Rucksack verstaut und die Hände frei hatte!
Ich gewann die Piste wieder und ging auf ihr ein Stück des Hinwegs zurück, am Collado del Lobo vorbei und durch die Bresche hindurch, weiterhin von etlichen Steinböcken begafft. Und weiterhin kamen mir immer wieder Biker und Wanderer entgegen – darunter eine Gruppe, die mich fast euphorisch grüsste, weil sie mich vom Refugio wiedererkannte. Heute würden sie in der «Albergo Universitario» in Pradollano übernachten, dorthin waren sie unterwegs. Schade, dass ihre Ferien morgen zu Ende waren, zu gerne hätten sie noch weitere Tage in den kühlen Bergen genossen!
Glück des Umwegs
Ich hatte das Glück, wenigstens einen Tag und sogar den topographischen Höhepunkt noch vor mir zu haben. Zuvor galt es aber den Abstieg zur Berghütte zu finden, was sich indes als leicht erwies: Ein Steinkegel am rechten Pistenrand zeigte einen abzweigenden Fusspfad an, und dank der zwei kleinen Lagunen, die ich unter mir liegen sah, konnte ich diesen mit Hilfe der Karte zweifelsfrei als den Weg des Río Seco identifizieren. Er führte mich in eine stark talwärts geneigte Furche hinein, die sich in der Form eines flachen «U» in den Hang hinein wölbte. Die Wände waren felsig und an den oberen Rändern zerklüftet, in der Muldenmitte deuteten Streifen satten Grüns auf das Vorhandensein von Wasser im Boden hin, ganz «seco» («trocken») war der Río Seco also nicht. Es war eine stille, wilde und karge Schönheit, durch die regelmässig gesetzte Steinkegel den Weg wiesen. Weiter unten schmiegte sich dieser an die grasbewachsene Südflanke des Loma Pelá, und als er sie umrundete, kam vor mir schräg unten auch schon das Refugio in Sicht. Nur noch die Rinne des Río Mulhacén trennte mich von ihm. Dort grasten und lagerten immer noch einige Kühe und Kälber, aber in so grossen Abständen, dass ich bedenkenlos zwischen ihnen hindurchgehen und den Bach überschreiten konnte. Jetzt, von oben herkommend und bei vollem Tageslicht, fand ich die Stelle problemlos; dass ich sie am Morgen übersehen hatte, betrachtete ich nun allerdings als Glücksfall, ihm hatte ich das Geschenk des Umwegs zu verdanken. Kurz vor sechs war die unerwartete Rundwanderung zu Ende – neuneinhalb Stunden, nachdem ich das Refugio mit andern Plänen im Kopf verlassen hatte.
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