EHWS Alpin, Etappe 20: Lämmerenhütte - Leukerbad
Ein kurzer und ein langer Abstieg, beide scheinbar senkrecht in die Tiefe führend, dazwischen eine lange Gerade über den flachen Lämmerenboden: so das einfache und klare Profil dieser Wanderung. Ebenso klar scheint hier die EHWS zu verlaufen: nämlich entlang einer scharfkantigen Linie von jäh nach Süden abfallenden Felswänden, die sich vom Schwarzhorn im Westen über den Gemmipass zu den Plattenhörnern im Osten hinüberzieht. Doch der Schein trügt: Das Wasser unterläuft sie.
Ich hatte mit Bewölkung gerechnet, aber die Sonne schien ungehindert in den Frühstücksraum hinein. Einen der Morgensonne stärker ausgesetzten Ort als die Lämmerenhütte kann man sich auch kaum vorstellen: Hoch auf einem Podest ruht sie über einer weiten Schwemmebene und blickt über diese hinweg nach Osten zum Gemmipass, über den das Licht einfällt. Der angekündigte Wetterumschwung verzögerte sich offenbar, und der Tatendrang, den ich bei den Frühstücksgesprächen unter den Gästen verspürte, liess mich fast ein wenig bedauern, dass ich mich zum Abstieg nach Leukerbad entschieden hatte. Denn ja: Alternativen hätte es hier oben auch für mein Thema gegeben! Die EHWS gab mir hier die Route nicht vor, vielmehr stellte sie mich vor die Wahl: Zwischen dem Wildstrubel und dem hinter dem Gemmipass aufragenden Rinderhorn bietet sie sich in zwei Varianten an.
Lämmerenhütte - Leukerbad |
|
Etappe | EHWS Alpin, Nr. 20 |
(Fernwanderprojekt EHWS) | |
Länge / Zeit | 12,2 km / 4h10' |
Auf- / Abwärts | 238 m / 1'359 m |
Höchster Punkt | 2'507 m (Lämmerenhütte) |
Tiefster Punkt | 1'379 m (Leukerbad) |
Fernwanderwege | --- |
Durchgeführt | Donnerstag, 27. August 2020 |
Weitere Facts & Figures | |
Vorige Etappe | Nächste Etappe |
Unterirdische Tatsachen
Das hängt zum einen mit dem Einschnitt des Gemmipasses zusammen, der das Wildstrubelmassiv von der Balmhorngruppe trennt (zu der das Rinderhorn gehört), und zum andern mit der Tatsache, dass das gesamte Lämmeren-Gemmi-Becken keinen oberirdischen Abfluss hat: Alles Wasser sammelt sich an seiner tiefsten Stelle in dem abflusslosen Daubensee. Rein topographisch betrachtet überquert die EHWS den Einschnitt auf der Passhöhe: Südlich davon würde das Wasser über die Dala zum Rotten fliessen (wie die Rhone im Oberwallis heisst) und nördlich via Kander und Thunersee zur Aare. In diesem Fall ist das jedoch eine im wahrsten Sinne des Wortes «oberflächliche» Betrachtung. Denn in Wirklichkeit, so weiss man aus Untersuchungen, fliesst das Wasser aus dem Daubensee unterirdisch unter dem Gemmipass hindurch nach Süden ab, um sich in den Rotten zu ergiessen. Aus dieser hydrogeographischen Sicht verläuft die Hauptwasserscheide somit über eine Schwelle, die den Gemmi-Einschnitt nördlich vom Daubensee überquert.
Eigentlich hätte ich meine Route an dieser wirklichkeitsnäheren EHWS-Variante orientieren wollen. Weil ich dafür aber einen Zusatztag zu benötigen glaubte und das Wetter mir diesen nicht zu gönnen schien, verzichtete ich darauf und entschied mich für die offizielle, «oberflächliche» EHWS-Variante. Und so hatte ich denn nur eine sehr kurze Etappe vor mir.
Ich nahm direkt Kurs auf den Gemmipass, dessen Gebäude (Bergbahnstation, Hotel und Hochspannungsleitung) im Gegenlicht vor den Silhouetten von Plattenhörnern und Rinderhorn zu sehen waren. Vom Lämmerenboden glitzerten die verschlungenen Wasserläufe herauf. Durch eine rund 200 Meter hohe Felsstufe stieg ich steil zu diesem hinunter, dann folgte das pure Gegenteil: eine lockere Flachwanderung über eine vollkommen platte Schwemmebene. In ihr sammelt die Lämmerendalu das von den Fällen des Wildstrubels und von allen Seiten herunterkommende Wasser und transportiert es durch sie hindurch; dabei fächert sie sich ihrerseits in mehrere Arme und Rinnsale auf, die durch die von ihr angeschwemmten Kiesbänke mäandrieren oder sich über diese ausbreiten, als wollten sie am liebsten ewig hier verweilen. Eingerahmt von den hohen, bei Kletterern beliebten Felswänden von Daubenhorn und Daube zur Rechten und dem scharfen Rand eines zerklüfteten Karstplateaus zur Linken streckt sich die Ebene auf einer Länge von rund drei Kilometern hin. Kurz vor dem Gemmipass verengt sie sich, und man sieht die nun wieder gebündelte Lämmerendalu scharf nach Norden abbiegen. Über die Schwelle, durch die sie dorthin abgedrängt wird, stösst man auf den Passweg – jene Schwelle also, die topographisch gesehen die Wasserscheide zwischen Nordsee und Mittelmeer bildet, de facto jedoch nur die lokalen Flüsschen Lämmerendalu und Dala trennt, die sich nach nur wenigen Kilometern im Rotten schon wieder vereinen.
Von der Scheinwasserscheide zurückgeschaut
Ins Tal der Dala blickt man denn auch wenig später jählings hinab, da die Wände der Daube an dieser Stelle plötzlich zurückweichen: In schwindelerregender Tiefe liegt der Kurort Leukerbad nahezu senkrecht unter dem Pass. Ich sparte mir den Abstieg aber für später auf und kreuzte den Passweg, um der Scheinwasserscheide ein Stück weit nach Osten zu folgen. Am verfallenden weissen Gebäude des alten Hotels vorbei stieg ich zu dem neuen hinauf, passierte die gleich daneben stehende Bergstation der Seilbahnen (eine führt südwärts nach Leukerbad, eine andere – kürzere – nordwärts zum Daubensee hinunter) und schlug einen Pfad ein, auf dem man laut Wegweiser zu den Plattenhörnern hinauf gelangen könnte. Ich begnügte mich aber damit, seitwärts in deren senkrecht hinabstürzende Felswände hineinzuschauen, und liess es auf einer Höhe von etwa 2400 Metern dabei bewenden. Mit dem Rücken zum Grat setzte ich mich hin und genoss die grossartige Übersicht über das gesamte Becken: über den Lämmerenboden retour zu der auf ihrem Podest hockenden Hütte, rechts von der Schwemmebene das herb-schöne, faszinierend strukturierte Karstgebiet, das sich wie ein Keil zwischen kahle Felsbänder nach Norden schob, und an dessen Rand der türkis-blaue, nierenförmige Daubensee. Klar zu sehen die Mündung der Lämmerendalu mit dem Fächer ihrer Ablagerungen, einen Abfluss sucht das Auge vergeblich. Knapp hinter dem See erahnbar die Geländeschwelle, die unter hydrogeographischen Gesichtspunkten die Hauptwasserscheide bildet.
Keine Eile
Auf dem Rückweg genoss ich dann noch Kaffee und Aprikosenkuchen auf der über den Abgrund der Gemmiwand hinausragenden Terrasse des modernen Hotelrestaurants. Es war inzwischen recht bevölkert, die Bahnen brachten unablässig neue Menschengruppen herauf, die nur die Aussicht genossen oder zu kleineren oder grösseren Wanderungen aufbrachen, nicht umsonst gilt der von beiden Seiten mit Seilbahnen erreichbare Höhenabschnitt des Gemmipasswegs als «Wanderautobahn». Doch auch auf dem Abstieg durch die 600 Meter hohe, zerklüftete Wand traf ich mehr Wanderer an als vermutet, und dies in beiden Richtungen. Spektakulär windet sich der jahrhundertealte Weg in unzähligen engen Schlaufen und teils über steile Treppenstufen durch die Spalten und Klüfte der Felsen. Wie gut für meine Knochen, dass ich keine Eile hatte!
Und weil ich auch nach dem Betreten des sich unterhalb der Felswand anschliessenden Waldes noch immer Zeit im Überfluss hatte, entschloss ich mich zu einem Schwenker ins Dala-Tal hinein. Auf einem Forstweg, der sich dem Hang entlang sanft steigend nach Osten zieht, ging ich etwa eine Dreiviertelstunde lang in Richtung der Clabinualp, um dann durch den Wald zum Ortsteil Buljes abzusteigen. Dies hielt ich für die östlichste Stelle, die mit motorisierten Verkehrsmitteln zu erreichen ist. Wenn ich mich dereinst hierher würde bringen lassen, so meine Spekulation, liesse sich meine nächste Tour entsprechend verkürzen, ohne mir einen Meter zu schenken.
Vom Dorf unten blickte ich wenig später bei Bier und Walliserteller zur Gemmiwand zurück. Der Himmel hatte sich inzwischen zwar bedeckt, aber bedrohlich sah es noch immer nicht aus. Es war erst drei Uhr; vielleicht wäre heute also durchaus mehr möglich gewesen. Aber der Gedanke war jetzt müssig - und vielleicht schien es ja auch nur so.
Bilder-Galerie
Starte die Dia-Show oder klicke dich durch (zum Vergrössern klicke zuerst auf das Kreuz in der Mitte).