Im Gebiet südöstlich von Granada verläuft die Europäische Hauptwasserscheide (EHWS) über den Hauptkamm der Sierra Nevada, das höchste Massiv der Betischen Kordilleren. Dieses erste von insgesamt vier Hochgebirgen, die von der EHWS traversiert werden, zählt fast zwei Dutzend Gipfel von über 3000 Metern Höhe; die beiden höchsten sind der Mulhacén (3482 m) und der Pico Veleta (3397 m), wobei der Mulhacén zugleich den höchsten Punkt der iberischen Halbinsel bildet.
Der von mir in Andalusien hauptsächlich benutzte Fernwanderweg E4/GR7 umgeht dieses im Winterhalbjahr meist schneebedeckte Gebirge durch die sich südlich anschliessende Region der Alpujarra, wo er sich auf Höhenlagen zwischen rund 1000 und maximal 2000 Metern durch Hänge und Täler zieht. Es ist aber auch möglich, viel näher an der Hauptwasserscheide durch das Hochgebirge zu wandern: Die Mehrtagesroute «Integral de los 3000» von Nigüelas im Westen nach Jérez del Marquesado im Nordosten verbindet zahlreiche, auch als «Altas Cumbres» bezeichnete Dreitausender des Hauptkamms, die zu einem grossen Teil auf der EHWS liegen. Allerdings gibt es auf dieser Route nur einige unbewartete Schutzhütten und keine Versorgungsmöglichkeiten, was entsprechenden Transportbedarf nach sich zieht. Ich habe deshalb auf deren Begehung verzichtet und mich vorerst an den GR7 gehalten. Allerdings lockte mich der Gedanke, allenfalls wenigstens einen Abstecher zum Mulhacén hinauf zu wagen; dank des an seinem Fuss gelegenen «Refugio Poqueira», einer bewirtschafteten Berghütte, schien mir dies im Bereich des Möglichen zu liegen. Auf diese Weise würden sich die beiden Alpujarra-Täler von Poqueira und Trevélez durch eine Gebirgsroute miteinander verbinden lassen. Als ich im Herbst 2018 in die Gegend kam, traf ich sie allerdings bei ungünstigen Witterungsbedingungen an, sodass ich darauf verzichtete und auf dem GR7 südlich unter dem Mulhacén vorbei bis nach Trevélez zog. Gleichzeitig beschloss ich aber, mir die Sierra Nevada dereinst für einen sommerlichen Kurzurlaub aufzusparen.
Sierra Nevada | |
Abschnitt | EHWS Andalusien, Teil IV |
(Fernwanderprojekt EHWS) | |
Länge / Dauer | 53,4 km / 4 Tage |
Durchgeführt | 17. - 20. Juli 2019 |
Höchster Punkt | 3'482 m: Mulhacén |
Tiefster Punkt | 1'280 m: Bubión, Kirche |
Start | Bubión |
Ende | Trevélez |
Fernwanderwege | ---- |
Weitere Facts & Figures | |
Vorige Teilstrecke |
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Davon versprach ich mir mehrere Vorteile: So gilt die Besteigung von Veleta und Mulhacén im Sommer als technisch relativ einfach, es ist mit schneefreien Gipfeln und stabilerem Wetter zu rechnen, man braucht weniger Gepäck als für einwöchige oder längere Wanderungen, und nicht zuletzt steht dank der längeren Tage erheblich mehr Wanderzeit zur Verfügung als im Herbst. Andererseits stellten sich für mich als Fernwanderer aber auch spezifische Herausforderungen: So würden nicht primär Kilo-, sondern Höhenmeter zu bewältigen sein, zudem wusste ich nicht, wie ich mit der dünneren Luft zurechtkommen würde, denn mit Anstrengungen in Höhen über 3000 Meter hatte ich kaum Erfahrung.
Im Juli 2019 war es soweit, ich führte mein Vorhaben aus. Ich flog von Genf via Madrid nach Granada und fuhr am Folgetag mit dem Bus wieder in die Alpujarra. Dort wanderte ich in dreieinhalb Tagen ein zweites Mal vom Poqueira-Tal nach Trevélez, diesmal aber über die «Cumbres». Ich startete in Bubión – dem mittleren der drei Poqueira-Dörfer – , übernachtete einmal in Capileira und zweimal im «Refugio Poqueira» auf 2500 Metern, erklomm die beiden höchsten Gipfel des Gebirges und schloss die Wanderung mit einem langen Steilabstieg nach Trevélez ab. Wiederum per Bus und Flug kehrte ich via Granada, Madrid und Genf nach Hause zurück.
Die Etappierung hatte ich nicht im Voraus so festgelegt, sie entwickelte sich nach und nach. Ursprünglich hatte ich mir nur den Mulhacén vorgenommen; aus Respekt vor seiner Höhe und dem langen und steilen Talabstieg wollte ich von ihm nochmals ins Refugio zurückkehren, wo ich vorsorglich für zwei Nächte reserviert hatte. Man könnte es sich freilich auch viel einfacher machen und mit der Besteigung erst auf jenem Bergrücken oben beginnen, der die Täler von Poqueira und Trevélez voneinander trennt: Von Capileira aus – dem höchsten und hintersten Poqueira-Dorf – kann man auf der «Carretera de la Sierra», die einst als «höchste Bergstrasse Europas» das Gebirge überquert hat, heute aber weiter oben nur noch eine Schotterpiste für Wanderer und Biker ist, mit dem Auto bis zum Parkplatz Hoya del Portillo auf 2150 Meter hinauffahren oder sich mit einem Shuttle-Bus der Regionalverwaltung sogar bis zu jenem von «El Chorillo» auf rund 2600 Metern bringen lassen. Von letzterem aus soll man vergleichsweise bequem in zirka zweieinhalb bis drei Stunden über den Loma del Mulhacén auf den Gipfel gelangen können.
Aber das war natürlich nicht der Sinn meines Vorhabens. Und nachdem ich durch Tageswanderungen in den Schweizer Alpen meine Bergtauglichkeit etwas steigern konnte – nach einer probeweisen Besteigung eines etwa gleich hohen Berges wie der Mulhacén hatte auch diese Höhe einiges von ihrem Einschüchterungspotenzial verloren – , begann ich meine Planung zusätzlich um einen Abstecher zum Veleta zu erweitern und einen Direktabstieg vom Mulhacén aus ins Auge zu fassen. Die schliesslich tatsächlich begangene Strecke ergab sich dann aber «unterwegs» durch einen Orientierungsfehler: Aus dem Abstecher zum Veleta wurde dadurch ungeplant eine Rundwanderung, die ich im Voraus als zu lang für einen Tag gehalten hatte und an die sich die Besteigung des Mulhacén, wenn auch in entgegengesetzter Richtung, anschloss. Rückblickend hätte ich die Rundwanderung problemlos andersherum gehen und von Anfang an so planen können.
Die Wanderung spielte sich grösstenteils auf der Mittelmeerseite der EHWS ab, die hier die Einzugsgebiete des Küstenflusses Guadalfeo und des Guadalquivir-Zubringers Río Genil tennt. Sie brachte mich aber auch mehrmals in direkte Berührung mit ihr: Neben dem Mulhacén – dem höchsten Gipfel der EHWS ausserhalb der Alpen – war dies auch auf dem Veleta und dem Carihuela-Pass und an einzelnen weiteren Stellen des Kamms der Fall – so etwa beim «Collado del Lobo», wo sich Ausblicke über die zum Quellgebiet des Genil hinabfallende Nordflanke boten. Der Gipfelauf- und -abstieg zwischen Carihuela-Pass und Veleta erfolgten auf der Genil- und damit auf der Atlantikseite; zwischen Mulhacén und Carihuela ging ich über mehrere Kilometer in unmittelbarer Nähe zur EHWS, unter anderem auf der erwähnten Schotterpiste der ehemaligen Bergstrasse, teils sogar hin und zurück, teils allerdings nur entgegen meiner sonst konsequent von Tarifa nach Russland orientierten Richtung.
Die Wege und Wegspuren waren meist gut begehbar, die Orientierung wurde im unteren Bereich durch Markierungen und weiter oben durch aufgeschichtete Steinhaufen oder –kegel erleichtert. Kartenmaterial und Wegbeschreibungen – auch in englischer Sprache – stehen für diese Tourismusregion in einer Qualität zur Verfügung, wie ich sie in Andalusien sonst bislang nicht angetroffen hatte. Mit dem Wetter hatte ich dieses Mal Glück, es war stabil sonnig, die Temperaturen waren im Vergleich zu der gleichzeitig in Granada unten herrschenden 40-Grad-Hitze sehr moderat und erträglich - ausgenommen beim Schlussabstieg nach Trevélez. Schade war nur, dass die Fernsicht zuletzt durch Dunst stark beeinträchtigt wurde.
Unten siehst du, wie ich die Strecke in Etappen eingeteilt habe.
Etappe 31 (17. Juli 2019) | Bubión - Capileira | 6,8 km / 2h34' |
Etappe 32 (18. Juli 2019) |
Capileira - Refugio Poqueira |
9,8 km / 4h08' |
Etappe 33 (19. Juli 2019) |
Ref. Poqueira - Pico Veleta - Ref. Poqueira |
20 km / 7h10' |
Etappe 34 (20. Juli 2019) |
Ref. Poqueira - Mulhacén - Trevélez |
16,8 km / 6h30' |
Vorige Teilstrecke:
Projektabschnitt:
Nächste Teilstrecke:
Wie es mir beim Wandern ergangen ist, kannst du in meinem Blog nachlesen. Unten gehts direkt zu den entsprechenden Tagesberichten.
EHWS Andalusien, Etappe 31: Bubión - Capileira
Es ist nur ein paar wenige Kilometer von Bubión nach Capileira. Wer die Strasse meiden will, hat die Wahl, das Ziel entweder via Talgrund von unten her oder aber nach einem Stück Hangaufstieg quasi horizontal anzusteuern. Ich entschied mich für die zweite Variante. Die nicht einmal 150 Meter Höhendifferenz waren mir jedoch nicht genug: Es trieb mich förmlich weiter den Berg hinauf, sodass ich Capileira erst über einen beträchtlichen Umweg und von oben her erreichte.
EHWS Andalusien, Etappe 32: Capileira - Refugio Poqueira
Zu meinem Sierra Nevada-Abenteuer konnte ich bei besten Bedingungen aufbrechen. Es kündigten sich sommerliche Temperaturen an, die jedoch wie schon gestern durch ein frisches Berglüftchen gemildert wurden. Beim Startaufstieg wurde ich auch noch vom Schatten des Bergkamms an der Ostseite des Tals geschützt, später verlief der Weg fast gemächlich dem Hang entlang. Mit dem Wind wehten mir die ganze Zeit mediterrane Düfte entgegen; vor allem Rosmarin war auch bis auf 2500 Meter hinauf überall anzutreffen.
EHWS Andalusien, Etappe 33: Refugio Poqueira - Pico Veleta - Refugio Poqueira
Geplant war eine klassische Gipfelbesteigung mit identischem Rückweg. Daraus geworden ist eine abwechslungs- und erlebnisreichere Rundwanderung. Nachdem ich eine entscheidende Abzweigung verpasst hatte, war ich schon drauf und dran, den Veleta aus dem Programm zu streichen. Da erkannte ich eine Chance, ihn auf einem Umweg doch noch zu erreichen. Alle Voraussetzungen dazu waren günstig, die Risiken kalkulierbar und eine Alternative vorhanden. Ein Angebot des Augenblicks, das man nicht ausschlagen sollte, fand ich.
EHWS Andalusien, Etappe 34: Refugio Poqueira - Mulhacén - Trevélez
Es war die Sahnehaube meines Sierra Nevada-Ausflugs: Zuerst derselbe Aufstieg wie am Vortag bis zur Hoch-Piste, anschliessend nochmals einige hundert Höhenmeter steil durch Fels und Lockergestein hinauf – dann stand ich oben: auf dem Mulhacén, 3482 Meter über Meer – dem höchsten Punkt nicht nur Iberiens, sondern auch auf der Kontinentalwasserscheide ausserhalb der Alpen. Der Preis dafür bestand danach aus einem gelenkstrapazierenden Talabstieg von über 2000 Metern. Ich bezahlte ihn gerne.